Christiane (22) – auf der Suche nach Seelenverwandten

Christiane  (22) – auf der Suche nach Seelenverwandten
Christiane

Mit 14  stieg ihr HBA1 C auf über 14, Alarmstufe Rot, letzte Rettung Klinikaufenthalt. Bis dahin hatte Christiane über ein Jahr lang ihre Eltern und ihren Arzt belogen und immer wieder behauptet, richtig gemessen und Insulin gespritzt zu haben. Das Gegenteil war der Fall: Christiane, bei der mit 12 Jahren bei einer Blutentnahme nach einer Grippeerkrankung beiläufig Diabetes Typ 1 diagnostiziert wurde, war felsenfest der Meinung, dass die Ärzte bei ihr eine Fehldiagnose gestellt hatten. 

Die Sonderstellung, die ihr der Diabetes im Schul- und Freundeskreis beschert hatte und die sie zu Beginn richtig cool fand, wurde mehr und mehr der Feind ihrer Seele.  Sie wollte nicht vom Sportunterricht wegen Unterzuckerung ausgeschlossen sein, sie wollte keine Außenseiterrolle und sie wollte schon gar keine Kommentare hören wie „sei doch froh, dass es nur Diabetes ist, es gibt schlimmere Krankheiten.“

Christianes Seele begann sich gegen ihren Körper zu wehren: Sie lehnte die Krankheit ab, ignorierte sie, verweigerte täglich nötige Insulinzugaben, jeder Stich mit der Spritze wurde zur Qual.  Sie saß vor dem Messgerät und starrte auf den Pen mit dem einzigen Wunsch, der Diabetes möge für sie selbstverständlich werden. Aber er wurde es nicht. Er zog sie runter in ein tiefes dunkles Loch der Traurigkeit und Antriebslosigkeit.  Es mehrten sich die Phasen, in denen  selbst das Aufräumen ihres Zimmers als unüberwindbare Hürde erschien. Manchmal blieb sie einfach morgens liegen und schaffte es nicht in die Schule, manchmal wünschte sie sich, gar nicht mehr aufzuwachen. Symptome einer schweren Depression.

Natürlich wollten die Eltern helfen.  Sie schickten sie zur Psychotherapie, erst zur einen, dann zur nächsten, am Ende waren es acht Therapeuten, die alle auf die gleiche Masche von Christiane reinfallen: Sie erzählte ihnen einfach das, was sie hören wollten. Dass es ihr schon viel besser geht, dass sie jetzt die Krankheit akzeptiert, weil sie ja weiß, dass sie bis ans Ende ihres Lebens zu ihr gehören wird, dass sie neuen Antrieb gefunden hat und so weiter und so weiter. Christiane ist eine gute Schauspielerin. Ihr wahres Leben sieht anders aus. Weil sie keine Kraft hat, aus dem Haus zugehen, vernachlässigt sie Freunde, selbst für ihre Hobbys ist keine Energie mehr da.

Erst als sie in der Diabetes-Spezialklinik in Bad Mergentheim auf Gleichgesinnte und einen Psychologen trifft, der ihr wirklich  zuhört, geht es für sie bergauf. Hier hat sie erstmals das Gefühl, nicht allein zu sein und Menschen zu treffen die sie verstehen, sie fühlt sich „daheim“.

Seit knapp einem Jahr ist Christiane nun in psychosomatischer Behandlung, seitdem geht es ihr besser, auch wenn die Gefühle sie immer noch überrollen. Aber sie kann wieder lachen. Wer sie heute sieht, sieht nichts anderes als eine hübsche, sympathische junge Frau, die durch ihren hessischen Dialekt geradezu zauberhaft wirkt. 

Wie das neue Profilbild, das Christiane ins social network Facebook auf ihre Seite eingestellt hat. Sie hat das Idol ihrer Kindheit gewählt: Cinderella, das schöne Mädchen, das im Verlies eingesperrt wird und erst von einem Prinzen aus ihrer Einsamkeit gerettet wird.  

Eine Art „Prinz“ war neulich schon da: eine Freundin bat sie, sich mit ihrem Bruder zu unterhalten, der soeben mit 25 die Diagnose Typ 1 Diabetes erhalten hatte. Zum ersten Mal konnte Christiane einem anderen Menschen helfen, ihn aufbauen und zusprechen, die Krankheit anzunehmen. Seit sie sich vorgenommen hat, ihre Erfahrung weiterzugeben und anderen Jugendlichen zu helfen, geht es ihr besser. Sie ist energiegeladen und antriebsstark. Sie möchte anderen helfen und sieht darin ihre Berufung. Ihr persönliches Verlies möchte sie nie mehr sehen.

(NMF, November 2010)