Inkretin-basierte Therapie: Ist die „Abnehmspritze“ ein Wundermittel für Menschen mit und ohne Diabetes?

Auf einem blauen Hintergrund liegen eine Einmalspritze und ein gelbes Maßband.
© Shuttterstock

Menschen mit Diabetes Typ 2 haben häufig ein Übergewicht … und dieses steht letztendlich auch im Zentrum der Entwicklung des Diabetes: In den letzten Jahren hat sich immer mehr herausgestellt, dass das Übergewicht bei Diabetes Typ 2 ein zentrales Problem ist. Über viele und verschiedene Mechanismen lässt es einerseits die Risiken für Stoffwechsel-, aber auch Gefäßerkrankungen steigen. Andererseits reduziert es auch häufig die Lebensqualität des Betroffenen erheblich.

Gewichtsmanagement besonders wichtig!

Es ist auch seit vielen Jahren klar, dass sich viele Parameter verbessern, wenn es gelingt, das Gewicht zu reduzieren: Die Stoffwechseleinstellung, der Blutdruck und auch das Gefäß-Risiko gehen deutlich nach unten. Gelenkbeschwerden bessern sich, ebenso die schlafbezogenen Atemstörungen und die Luftnot bei Belastung. Oft reichen schon 5-10% weniger vom Ausgangsgewicht. Wichtig ist aber, dass das Gewicht dann auf dem Niveau bleibt, was oft sehr schwerfällt. In den letzten Jahren standen in der Behandlung der hohen Blutzuckerwerte beim Diabetes Typ 2 gute Medikamente zur Verfügung, die zwar effektiv den Blutzucker senkten, stellenweise aber das Gewichtsmanagement behinderten, ja sogar zu einer Gewichtszunahme führten…

Neue Therapiemöglichkeiten – die Erfolgsstory der Inkretin-basierten Therapie

In den letzten 20 Jahren hat sich ein neuer Therapieansatz immer mehr bewährt, da er nicht nur sehr gut die Glukose-Einstellung ohne Unterzuckerung bewerkstelligt, sondern auch noch sogar zu einer relevanten Gewichtsreduktion führen kann. Das Inkretin-System ist seit vielen Jahren bekannt: Es gibt mehrere Darm-Hormone, die vor allen Dingen nahrungsbedingt zu einer Steigerung der Insulinausschüttung an der Bauchspeicheldrüse und zu einer Hemmung des Glukagons an der Bauchspeicheldrüse führen.

Gleichzeitig wird die Magenentleerung etwas verlangsamt, dadurch kommt es auch zu einem leichten Fülle- und Sättigungsgefühl, der Speisebrei wird langsamer aufgeschlossen und die Blutzuckerwerte steigen nicht so stark an. Darüber hinaus wirken diese Inkretine im Gehirn, sie erhöhen dort das Sättigungs- und reduzieren das Hungergefühl.

Diese Inkretine (z.B. Ozempic®) wurden ursprünglich als Medikamente zur Senkung des Blutzuckers entwickelt und haben sich auch sehr gut bewährt: Sie führen zu einer besseren Stoffwechselkontrolle, ohne dass durch sie das Unterzuckerungs-Risiko verstärkt wird, und sie ermöglichen den Behandelten, Gewicht zu reduzieren. In den letzten Jahren haben außerdem Studien gezeigt, dass diese Medikamente sogar das Herz-Kreislauf-Risiko verbessern und Herzinfarkt, Schlaganfall und sogar die Sterblichkeit reduzieren und die Niere schützen. Daher werden diese Medikamente derzeit von allen Fachgesellschaften für die Therapie von Menschen mit Diabetes Typ 2 und sehr hohem kardiovaskulären Risiko ausdrücklich empfohlen.

Verträglichkeit und Sicherheit

Die vielen großen klinischen Studien mit mehr als 100.000 Teilnehmer*innen haben nicht nur die Vorteile der Substanzen, sondern auch solide Sicherheit gezeigt. Aufgrund der Wirkung im Magen-Darm-Trakt treten - vor allem zu Beginn der Therapie - immer mal wieder leichte Übelkeit und Völlegefühl auf. Das kann verbessert werden, indem anfangs die Mahlzeiten-Portion reduziert wird. Dadurch sind kleinere Mengen im Magen, so dass die durch die Inkretine verlangsamte Magenentleerung nicht zum Störfaktor wird. Wichtig ist auch, dass die Erhöhung der Dosis nur langsam erfolgt –  das sollte immer mit dem behandelten Arzt / der behandelnden Ärztin besprochen werden. Bei allen Langzeit-Studien, die wir seit Jahren machen, und auch der Behandlung unserer Patient*innen gibt es ganz wenige, die aufgrund der Unverträglichkeit die Behandlung beendeten.

Endlich erfolgreiche – und relevante – Gewichtsabnahme! 

Besonders für die Betroffenen ist sehr erfreulich, dass durch die Inkretin-Therapie das Gewicht um 5 kg, bei den neueren Studien sogar über 10 kg reduziert werden kann. Das ist bisher mit den konventionellen Therapien kaum möglich gewesen. Aber natürlich führen diese Erfolge auch dazu, dass auch andere, nämlich Menschen ohne Diabetes, diese Medikamente zum Gewichtsmanagement nutzen wollten.

Inkretin-Therapie auch bei Menschen ohne Diabetes effektiv und sicher

In den letzten Jahren wurden aufgrund der positiven Erfahrungen bei Menschen mit Diabetes Typ 2 auch Studien zur reinen Gewichtsreduktion bei Menschen ohne Diabetes durchgeführt. Sie zeigen erfreulicherweise nicht nur eine ausgeprägte Wirkung auf das Gewicht, sondern auch eine gute Verträglichkeit und Sicherheit. So bestehen im Vergleich zu den früher angewandten Mittel zur Unterstützung der Gewichtsreduktion wie Rimonabant oder Sibutramin keine Sorge vor unerwünschten Nebenwirkungen. Im Gegenteil, kürzlich zeigte Semaglutid (WEGOVY®), dass es auch bei Menschen mit hohen Herz-Kreislauf-Risiko Schlaganfall, Herzinfarkt und Tod reduziert!

Social Media und Laienpresse verleiten zum Missbrauch

Leider haben die deutliche Gewichtsreduktionen bei Menschen ohne Diabetes auch dazu geführt, dass insbesondere in den Sozialen Medien und in den Zeitungen Sensationsmeldungen (häufig unter dem Schlagwort „Abnehmspritze“) veröffentlich wurden. Hier wurden z.B. Menschen vorgestellt wurden, die super deutlich abgenommen haben. Auch bekannte Persönlichkeiten gingen damit an die Öffentlichkeit, um zu zeigen, wie erfolgreich sie mit Hilfe des Medikaments abnehmen konnten. Das hat dazu geführt, dass es eine sehr große Nachfrage für diese Medikamente gibt und nun leider auch ein Missbrauch erfolgt. Denn die Inkretine sind nicht „Abspeck“-Mittel, um einmal schnell die Bikinifigur zu erreichen, sondern ein Medikament, das bei kranken Menschen sogar die Prognose verbessert und daher für diese Gruppe primär zur Verfügung stehen sollte.

Inkretin-Therapie muss vom Arzt (richtig) verordnet werden

Porträt Prof. Dr. Stephan Jacob
© privat

Aufgrund der extrem gestiegenen Nachfrage nach diesen Medikamenten kommen die Hersteller mit der Produktion nicht mehr nach. Daher sollte die Medikation für die vorbehalten sein, die einen besonderen Vorteil dadurch haben; vor allem natürlich die Menschen mit Diabetes Typ 2. Das gilt besonders, wenn ein hohes Gefäßrisiko oder bereits gefäß-bedingte Probleme wie Herzinfarkt, Schlaganfall vorliegen. Daher sollen die Ärzte beim Verordnen auch immer auf das Rezept die Diagnose „Diabetes Typ 2“ schreiben. Verordnungen, die erwünscht werden, um den Winterspeck loszuwerden, sollten nicht erfolgen, denn so würde das wirksame Medikament denen weggenommen/vorenthalten, die besonders davon profitieren.

Wir danken unserem Gast-Autor, Prof. Dr. Stephan Jacob, Internist, Endokrinologe, Diabetologe