Barrierefreiheit bei Diabetestechnologie
Ein Gastbeitrag unserer stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Diana Drossel
Die Diabetes-Technologie macht derzeit rasante Fortschritte: Fast monatlich kommen neue Systeme auf den Markt, ständig gibt es Weiterentwicklungen. Doch während die breite Mehrheit problemlos auf diese Technologien zugreifen kann, stehen Menschen mit Diabetes und Seheinschränkungen oftmals bei der Nutzung vor Problemen. Diese Probleme müssen nicht sein, denn die technischen Möglichkeiten liegen längst vor. Auch gesetzliche Regelungen zur Barrierefreiheit gibt es, doch sie werden häufig nicht erfüllt. Warum das so ist und was getan werden müsste, damit auch Menschen mit Seheinschränkungen die aktuellen Technologien nutzen können, darüber schreibt unserer stellvertretende Vorstandsvorsitzende Diana Drossel im folgenden Gastbeitrag.
Dieser Beitrag ist eine leicht bearbeitete Fassung eines Artikels, der zuerst im Newsletter DiaTec Weekly erschienen ist. Wir danken für die Genehmigung zur Übernahme des Textes.
Bildung ist ein teures Gut. Dieser Schatz lebt von Weiterbilden, Erkenntnisse sammeln und deren Anwendung. Man nennt es über den Tellerrand in die Zukunft schauen. Dieses innovative Fortschrittsdenken scheint den Herstellern von Medizintechnik abhandengekommen zu sein. Dabei befinden wir uns jetzt im Digitalen Zeitalter an einem Punkt, an dem man alle Behinderungen mit Leichtigkeit kompensieren kann. Ohne zusätzliche Kosten. Die Barrierefreiheit ist seit 2009 Gesetz in Deutschland, aber noch gibt es keine Konsequenzen. Wir, die Kunden, bereiten in dieser Hinsicht Schritte vor, dazu aber später im Artikel.
Über welches Wissen, Technik und Möglichkeiten geht es? Wieso habe ich dieses Wissen und nicht die Industrie?
Liegt es daran, dass ich nicht nur Berufserfahrung in der Diabetologie erworben habe, sondern auch im Leben, da ich im Alter von 14 Monaten mein erstes Insulin gespritzt bekommen habe. Vor über 40 Jahren verlor ich mein Augenlicht und trage seitdem zwei Glasaugen. Diese Augen sehen sehr gut aus, das erleichtert dem Sehenden die „Face to Face“-Kommunikation mit mir, aber trotzdem bin ich blind, nicht nur gesetzlich blind. Seit 1985 benutze ich eigenständig Insulinpumpen, seit 2015 den Dexcom G5 dann den G6, beides unter iOS. August 2021 bin ich auf das Android-APS Loop-System gegangen und bin dort seit 2022 Mitglied im Entwicklerteam.
Wie kann das blind funktionieren?
Technik und vor allem die Digitalisierung räumt uns blinden Menschen die Barrieren aus dem Weg. Das hat schon unter DOS und mit der Internetnutzung angefangen. Mit Windows wurde das komfortabel. Probieren sie die Kombination „Windows-Taste + Control-Taste“ halten und die Enter-Taste drücken. Der Screenreader „Narrator“ steht zur Verfügung. Mit den heutigen Smartphones, die alle einen Screenreader an Bord haben (bei iOS ist es VoiceOver und bei Android ist es TalkBack), ist die uneingeschränkte Unterstützung gekommen. Es wird einem Menschen mit Seheinschränkung nicht nur ermöglicht, ein Smartphone so zu nutzen, wie ein Sehender, sondern es gibt noch weitere Besonderheiten, die das Sehen teilweise ersetzen. Der QR Scanner signalisiert die Erfassung des Kodes und öffnet die hinterlegten Informationen. Mit der OCR, Optical Character Recognition (Optische Zeichenerkennung), der Texterkennung, eine Technologie, die die Umwandlung unterschiedlicher Dokumente, wie beispielsweise gescannter Papierdokumente, PDF-Dateien oder Digitalbilder in bearbeitbare und durchsuchbare Dateien macht, ermöglicht dem Screenreader mit seiner Text-to-Speech Funktion den Zugriff darauf.
Android und iOS verlangen von den Programmierern, dass sie bei der Erstellung ihrer Apps die grundlegenden Standards/Basics der Betriebssysteme einhalten.
Das haben die Programmierer bei den Apps von Dexcom G5/G6 gemacht. Dies bedeutet, dass der seheingeschränkte Mensch mit Diabetes nicht nur den aktuellen Wert erfährt. Er kann auch den Sensor selbst wechseln bzw. den Transmitter austauschen, seine Alarme selbst einstellen oder die Zielwerte den Time in Range (TIR) durchforsten. Die Erfassung der Ziffern des Sensorcodes gelingt leicht mit Seeing AI (Microsoft Corporation) oder Lookout (Google), das sind Sprechende Kamera-Apps für Sehbehinderte, durch die geschlossene Sensorverpackung (siehe auch https://www.afb.org/aw/19/9/15059). Denn den winzigen QR-Code anzuvisieren, ist bei dem G6 ein Glücksspiel.
Mit der App Meala führe ich nicht nur mein Diabetestagebuch, die CGM-, Schlaf- und Aktivitäts-Daten werden automatisch hinzugefügt. Beim Abfotografieren der Mahlzeiten werde ich durch Meala in der Kameraführung unterstützt und habe eine fundierte Gesprächsgrundlage über „was habe ich gegessen“ für mein Diabetesteam. Der Blutzuckerverlauf (Diagramme) des Essens werden mir akustisch gespiegelt. Mit einmal kurz hinhören, also „nur einen Blick“ drauf werfen, erkenne ich den gesamten Verlauf und kann meine Therapieentscheidung beurteilen. Ich habe damit genauso viele oder wenig Probleme, wie ein sehender Diabetiker. Wir können durch die Digitalisierung eben auch loopen, Schritte zählen, Mails schreiben und vieles mehr. Siri und seine Verwandten sind hingegen dumme Diener, die nur machen, was ich ihm beibringe. VoiceOver ist der Guide, der mich durch den Dschungel der Dunkelheit auf dem digitalen Weg begleitet.
Die Haptik
Das andere Problem ist die haptische Gestaltung der Hardwareprodukte. Ihre taktile und/oder akustische Erfassung des einzustellenden Zustandes, werden von den Designern nicht beachtet. Insulin-Pens funktionieren nach dem Prinzip „sehen - hören – fühlen“ und haben eine Endabschaltung, wenn die Insulinmenge verbraucht ist. Bei einigen Digitalen Pens verzichtet man bereits auf „hören und fühlen“ und der Endabschaltung, da man ja alles auf dem Pen-Display sehen kann.
Die Firmen Eli Lilly, Travenol, Hoechst, Satorius, Deltec und Roche ermöglichten seit jeher Blinden die Benutzung Ihrer Insulinpumpen durch ausgeklügelte taktile Möglichkeiten und akustische Signale. Die letzten nutzbaren Pumpen, die Combo und Insight von Roche, sind seit Ostern 2022 nicht mehr verfügbar.
Wie sieht es mit den käuflichen AID-Systemen aus?
- Roche ist vor Ostern neu mit DBLG1 (Insight/Diabeloop), im Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen worden. (die Hardware gibt es nicht mehr)
- Diabeloop hat als Betriebssystem Android. Da man durch den in Android verankerten Sreenreader TalkBack leicht die Schwächen in der Programmierarbeit mitbekommt, hat man TalkBack komplett gesperrt. Warum sonst sollte man auf das Prädikat „Barrierefrei“ verzichten?
- Medtronic ist im Hilfsmittelverzeichnis, aber absolut nicht barrierefrei.
- Ypsomed mit Cam APS FX ist zwar noch nicht drin, aber auf dem besten Weg dahin. Hierzu ein Auszug aus der DIA-AID live-Veranstaltung:
„Allerdings – und das gehört seit Beginn der DIA-AID live-Veranstaltungen unbedingt dazu – wurde auch Kritik an den Medizintechnik-Herstellern geäußert. Ganz konkret betraf das im Fall von Ypsomed die mangelnde Barrierefreiheit: So praktisch Touchscreens für viele Menschen auch sind, blinde und sehbehinderte Personen haben hier große Schwierigkeiten oder die Bedienung wird ihnen gar unmöglich.
Deutlich machte dies unter anderem ein Teilnehmer aus der Schweiz. Dessen neunjährige Tochter ist Typ-1-Diabetikerin – er selbst ist blind. Schon mehrfach, so berichtete der Vater, habe er bei Ypsomed auf eine barrierefreie Bedienbarkeit gedrängt, passiert sei trotz verschiedener Versprechen aber noch nichts. Die YpsoPump sei ja grundsätzlich gut, aber in Sachen Bedienbarkeit werde einfach viel Potential verschenkt.“
https://www.diabetiker-nds.de/news/meldung/news/ypsomed-und-dexcom-lob-fuer-den-loop-und-konkrete-kritik
- Cam APS FX habe ich mir angesehen. Es gibt viele Problemstellen in der App, aber leicht zu beheben. Mit TalkBack bekommt man vieles mit!
- Insulet: Welchen Algorithmus wird der Omnipod 5 erhalten, wie ist seine haptische Barrierefreiheit? Bisher ungewiss!
- Die t:slim X2™ Insulinpumpe mit Control-IQ Technologie, absolut nicht barrierefrei. (Die Bedienung der Hardware (Touchscreen) könnte durch Umprogrammierung barrierefrei werden.) Die technische Konstruktion, Aluminium im Body schirmt BT-Signale ab, verhindert Nutzertauglichkeit. Besonders nachts erfolgen Alarme wegen Signalverlust zum Dexcom Transmitter.
- Die Sigi-Pump: vom Hersteller, habe ich ein Danke auf meine Fragen erhalten und ich könne die Fortschritte auf der Webseite verfolgen. Und dann ist wieder alles zu spät.
Welche Möglichkeit haben wir?
Gespräche sind genug geführt worden.
So zum Beispiel Ende der 1990 Jahre. Da hatten die blinden Diabetiker die Insulinproduzierenden Firmen nach Rahbach eingeladen und gemeinsam eine Möglichkeit der optischen und taktilen Markierung zur Unterscheidung der Insulin-Umverpackungen gefunden. Lilly hat umgehend Prototypen von dem Insulin entsprechend verschiedenfarbigen, klebe Etiketten mit Groß- und Punktschrift erstellt. Alle Beteiligten haben dieser Umsetzung zugestimmt. Dann kam das Stopp aus einer Rechtsabteilung mit der Begründung: der Apotheker könne beim Kleben die Verpackung verwechseln! Der Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) hat die Notwendigkeit der Unterscheidbarkeit für alle Medikamente gesehen und hat mit der EU-Blindenunion diese Kennzeichnung durchgesetzt.
Der Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) hat die lebensbedrohende Problematik erkannt und bereitet weitergehende Schritte vor. Hier finden Sie ein Faktenblatt dazu.