Nebendiagnose Diabetes im Krankenhaus

Ein Patient liegt auf einem Krankenhausbett. Daneben eine Ärztin, die auf einem Klemmbrett Notizen macht.
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Eine Hüft-OP steht an. Der Patient checkt im Krankenhaus ein und geht nach ein paar Tagen wie geplant mit neuer Hüfte, aber zusätzlich ungeplant auch mit einem neu diagnostizierten Diabetes nach Hause. Dieses oder ein ähnliches Szenario ist gar nicht so unwahrscheinlich. Unter den rund 17 Millionen Menschen, die jedes Jahr in Deutschland stationär in einem Krankenhaus aufgenommen werden, hat fast jeder fünfte Diabetes (entspricht ca. 3 Millionen) – häufig, ohne es bis dahin gewusst zu haben.

Die Folgen einer „Nebendiagnose Diabetes“ im Krankenhaus sind gravierend: Diabetes kann den Aufenthalt um durchschnittlich zwei Tage verlängern, es besteht ein zweifach erhöhtes Komplikationsrisiko und die Kosten für die Behandlung sind um bis zu 20 % höher. Gleichzeitig ist die Versorgungssituation aber angespannt. „Wir sind zu wenig Diabetologen im ambulanten, aber auch im stationären Bereich“, beschreibt Susanne Reger-Tan, Fach- und Oberärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie sowie Leiterin des Diabetes Exzellenzzentrums an der Universitätsklinik Essen, die Problematik. Häufig leide die Diabetestherapie darunter, zudem werden Diabetesberater*innen im Krankenhaus nicht in der Versorgungspauschale berücksichtigt, ergänzt sie.

Reger-Tan hat daher im Jahr 2020 das Konzept „SmartDiabetesCare“ an der Essener Klinik ins Leben gerufen, in dem mithilfe von digitalen Technologien die Situation verbessert und die Versorgungslücke im Diabetes-Bereich behoben werden sollen. „Keine andere Erkrankung hat so einen systematischen Einfluss auf die unterschiedlichsten Bereiche in der Gesundheitsmedizin und ist gleichzeitig so digitalisiert wie Diabetes – allerdings bislang nur im ambulanten Bereich“, beschreibt Reger-Tan die Ausgangslage und das große Potenzial. 

Diabetes-Screening bei der Neuaufnahme

Im Zuge von „SmartDiabetesCare“ wurde unter anderem alle Neuankömmlinge in Essen bei der Klinikaufnahme einem Diabetes-Screening über eine laborchemische Untersuchung unterzogen – es sei denn, die Betroffenen wollten dies explizit nicht. „Die auf diese Weise diagnostizierte Nebendiagnose Diabetes tritt rund 14 mal häufiger auf als die Hauptdiagnose Diabetes, die sonst aufgrund der Diabetes-Symptomatik in der Notaufnahme oder im ambulanten Bereich gestellt wird,“ weiß Reger-Tan. „Wir haben eine hohe Dunkelziffer festgestellt. Rund ein Drittel der Betroffenen wusste nicht, dass sie Diabetes haben, und diejenigen mit einem Prädiabetes wussten es fast alle gar nicht.“ Das Diabetes-Screening bei Aufnahme soll künftig App-basiert funktionieren. 

Ein weiteres zentrales Element von „SmartDiabetesCare“: CGM-Systeme (kontinuierliche Gewebezuckermessgeräte). Sowohl Menschen mit Diabetes als auch die ambulanten medizinischen Teams nutzen heutzutage auf breiter Ebene CGM-Sensorik, Insulinpumpen und die gewonnenen Daten. „Zwischen dieser gelebten Praxis und dem Krankenhaus besteht allerdings eine künstliche Grenze“, so Reger-Tan. „Sobald ein Patient diese Schwelle überschreitet, wird es analog.“ Damit meint sie etwa, dass man heutzutage meist noch auf analoge Hilfsmittel umsteigen muss, weil etwa CGM-Sensoren bislang noch keine amtliche Zulassung für die Verwendung durch medizinisches Fachpersonal in der Klinik im stationären Bereich haben. Im Rahmen des Projekts in Essen erhielt dagegen jeder Mensch mit Diabetes in der Klinik ein CGM-System.

„In Zeiten von Personalmangel und gerade auf weitläufigen Klinikgeländen wie dem unseren erleichtert das kontinuierliche Glukosemonitoring den Alltag der Pflege- und medizinischen Kräfte“, berichtet Reger-Tan von ihren Erfahrungen. „Die Zeitersparnis hat das beteiligte Personal schnell überzeugt.“ Auch die Patienten selbst hätten die Systeme gut angenommen, fanden auch die Option, die Daten eines CGM-Systems mit Dritten teilen zu können, attraktiv. Das gebe Sicherheit, die sonst im Alltag oft fehle, so Reger-Tan. 

Zudem kam bei „SmartDiabetesCare“ ein Tablet für die Pflegekräfte zum Einsatz, die dort zentral alle Parameter inklusive Glukosewerte eintragen konnten. Und die Patientinnen und Patienten mit Diabetes erhielten neben einer persönlichen Schulung die Möglichkeit, sich über ein digitales E-Learning weiterzubilden – und damit auch nach Feierabend des Diabetesteams und zu Zeiten, wenn im Krankenhaus die dafür nötige Ruhe einkehrt.  

Die Uniklinik Essen hat also einen Weg gefunden, mithilfe von Technologie die Diabetesversorgung im Krankenhaus zu optimieren. Ein Weg für die Zukunft? „Wenn man anerkennt, dass Diabetes eine relevante Krankheit ist, die die Gesundheit des Patienten und den stationären Verlauf im Krankenhaus beeinflussen kann, ist eine Technologisierung inklusive Investment in personelle und finanzielle Ressourcen alternativlos“, ist sich Reger-Tan sicher. Es gebe zudem perspektivisch noch viel mehr Potenzial, wenn man etwa an den Einsatz von AID-Systemen denke, sagt sie. Fest stehe: „Die Diabetesversorgung im Krankenhaus muss in Deutschland verbessert werden.“ 

Mit bekanntem Diabetes im Krankenhaus

Für Menschen mit Diabetes, die einen geplanten Aufenthalt im Krankenhaus vor sich haben, hat Reger-Tan wertvolle Tipps: „Man sollte seinen Diabetologen im Vorfeld informieren und aufgrund des erhöhten Komplikationsrisikos eine gute Glukoseeinstellung anstreben. Auch sollte man direkt bei der Aufnahme offen kommunizieren, dass man Diabetes hat und auf einer entsprechenden Betreuung bestehen.“ Außerdem wichtig: Insulinplan und andere relevante Diabetesdokumente mitnehmen! 
Laut der Medizinerin sollte man zudem sicherheitshalber seinen eigenen Bedarf an Hilfsmitteln mitnehmen und vor Eingriffen gemeinsam mit dem Klinikpersonal prüfen, ob alle verwendeten Medikamente OP-tauglich sind. „Viele wissen nicht, dass SLGT-2-Inhibitatoren sowie Metformin pausiert werden müssen, da andernfalls ernste Notfälle drohen“, ergänzt sie. Und schließlich dürfe man nicht vernachlässigen, dass sich Stresssituationen wie ein Krankenhauaufenthalt negativ auf die Glukoseeinstellung auswirken können.

„Ich hoffe, dass künftig stärker erkannt wird, welche Bedeutung Diabetes für einen Krankenhausaufenthalt hat, und dass das Diabetesmanagement im stationären Bereich mehr Wertschätzung erhält“, resümiert Reger-Tan. „Wir stehen durch die Krankenhausreform vor zahlreichen Herausforderungen bei der Versorgung von Diabetes – im stationären wie auch im ambulanten Setting. Die Technologisierung ist ein attraktiver Weg, um die aktuelle Situation zu verbessern.“

Text: Susanne Löw