Tetje – der 68kg schwere Weg zum Ich

Tetje Mierendorf
© Tana Hall
Tetje Mierendorf

Hat der einen Fat-Suit* an? So manch Zuschauer wird sich diese Frage gestellt haben, als sie Tetje Mierendorf zum ersten Mal im Fernsehen sehen als „der dicke, große, peinliche Verlobte“. Hat er nicht und ist fortan zwischen 2005 und 2008 aus den Improvisations-Comedytheaterformaten der Privatsender nicht mehr wegzudenken. Der fast 2 Meter lange, knapp 180 Kilogramm schwere Schauspieler spielt an der Seite von Dirk Bach, Ralf Schmitz, Cordula Stratmann, Annette Frier und Bernhard Hoecker stets den lustigen Dicken, mit dem man und über den man jeden Scherz machen kann. Dicke sind halt von Hause aus gesellig, friedliebend und humorvoll. Es folgen weitere Rollen, die ihm auf den dicken Leib geschrieben werden, denn dieser ist längst zu Tetjes USP**, seinem Alleinstellungsmerkmal, geworden. Zu dem Zeitpunkt weißs Tetje längst, dass er an Typ 2 Diabetes erkrankt ist. 2005 bescheinigt der Arzt dem damals 33-Jährigen einen  (katastrophalen) HbA1c- Wert (Langzeitblutzuckerwert)  von 11,9.  Mit den Worten: „Sie trifft keine Schuld - verlieren Sie bitte nicht Ihre Lebensqualität.“ und Metformin in Tablettenform wird er heimgeschickt. Heute sagt Tetje, man hätte ihn als Patienten viel mehr in die Verantwortung nehmen müssen, er hätte eine deutlichere Ansage benötigt, dass er selbst für sich und seine Gesundheit verantwortlich sei.

Also lebt er weiter wie bisher: er isst unregelmäßig, ungesund, zu viel, zu spät, vor allem zu süß: bis zu 1 Kilo Schokolade pro Tag. Und nimmt weiter zu. Dabei fühlt er sich noch nicht einmal schlecht. Die Fettschicht liegt wie ein Cocon über seinen Emotionen, den guten und den schlechten. Er argumentiert sich das Dicksein zurecht und entwickelt „Selbstbeschiss-Taktiken“, um nicht in der Öffentlichkeit mit großen Portionen gesehen zu werden. Wenn er abends zum Essen eingeladen ist, isst er vorher Extra-Portionen, um vor anderen nur Mini-Portionen zu essen – und erntet erwartete  Kommentare: „Komisch, Du isst ja gar nicht so viel.“

Der Wendepunkt in seinem Leben beginnt mit der Geburt seiner Tochter 2012. Da ist zum ersten Mal ein Mensch, für den er Verantwortung übernehmen, da sein, funktionieren muss und das noch sehr lange. Im selben Jahr stirbt Dirk Bach, sein nicht minder dickes, wenn auch erheblich kleineres Pendant. Tetje kommt ins Grübeln. Im Internet macht er 2014 einen Lebenserwartungstest, ihm werden noch 2 Jahre gegeben, sein Tod mit 44 vorhergesagt, wenn er so weiterlebe wie bisher. Er würde seiner Tochter nicht das Fahrradfahren beibringen können, obwohl er es ihr doch versprochen hatte. Als er in derselben Nacht einen Traum hat, in der ein anderer Mann an der Seite seiner Frau der Tochter das Fahrradfahren beibringt weiß er, es muss sich etwas ändern -  und zwar jetzt!

Tetje Mierendorf
© Tana Hall
Tetje Mierendorf

Er will seinem Feind, dem Übergewicht, nun die Stirn bieten und zwar von mehreren Seiten. Diäten hatte er schon viele gemacht, aber nie hatte er sich die Frage gestellt: Welche Funktion hat das Dicksein in meinem Leben? Da er auf lange Sicht keinen Termin beim Psychologen bekommt, startet Tetje eine eigene Psychoanalyse: Wer bin ich wirklich? Und kommt zum Ergebnis, dass er die dicke Rolle seit der Kindheit eingenommen hatte, um nicht in die tägliche Konkurrenz mit seinem sportlich erfolgreichen Bruder treten zu müssen. Von einem Dicken werden keine Höchstleistungen erwartet. Jahrzehntelang hat sich Tetje im Dicksein versteckt, nun durchlebt er seine 2. Pubertät. Er will herausfinden, was ihm eigentlich Spaß macht am Leben und probiert vieles aus.

Auf einmal purzeln die Pfunde. Im ersten Jahr nimmt Tetje 25 Kilo ab mithilfe einer Formulanahrung als Einstiegsdiät. Er beschäftigt sich zum ersten Mal mit Lebensmitteln, geht mit einer App einkaufen, die den Barcode scannt und ausweist, wieviel Eiweiß, Kohlenhydrate und Fett drinstecken. Er zählt fast jede Kalorie, überall hat er Haushaltswaagen, um Portionen besser einschätzen zu können, mehr als 3000 Kilokalorien pro Tag nimmt er nicht zu sich. Und er macht jeden Tag Sport, inzwischen vor allem Fitness und Krafttraining, anfangs kombiniert mit Ausdauertraining.  Die Kilos schmelzen: 2016 hat er insgesamt 68 Kilogramm abgespeckt, sein Langzeitblutzuckerwert liegt bei 5,5. Ob er glaubt, jemals wieder dick zu werden? Nein, sagt er, er glaubt, er sei über den Berg, aber er müsse täglich daran arbeiten, auch mental. Für ihn ist die Ursache klar: Adipositas sei nur das Symptom, die Psyche sei die Krankheit.   

Gleichzeitig schaftt er es, sich beruflich neu zu orientierten, arbeitet als Sychronsprecher und Motivationscoach. Im Schauspiel muss er seinen Platz erst neu finden:  Für seine aktuelle Schauspielrolle, den Shrek im gleichnamigen Musical, muss er einen Fat-Suit anziehen. 

Nicole Mattig-Fabian, Juli 2017

 

*Übergewichts-Simulations-Anzug

** USP = Unique Selling Point, Fachbegriff aus dem Marketing