„Time in Normal Glucose“ / „Time in Tight Range“– das neue Maß der Dinge?

Die „Time in Range (TiR)“, also die Zeit, in der der Blutzucker im Zielbereich liegt, hat in der Diabetestherapie seit dem Einzug von CGM-Systemen als Parameter eine zunehmende Bedeutung erfahren. Je mehr Zeit in der TiR – oft definiert als Werte zwischen 70 und 180 mg/dl bzw. zwischen 3,9 und 10 mmol/l –, desto besser die Glukoseeinstellung und desto geringer das Risiko für Folgeerkrankungen, so die zugrundeliegende Logik. Mindestens 70 % in der TiR gelten dabei als erstrebenswerte Orientierungsmarke.
Vor etwa zwei Jahren tauchte zusätzlich der Begriff „Time in Tight Range“ erstmals auf Medizin-Kongressen auf – ein noch enger gefasster Zielbereich von 70 bis 140 mg/dl bzw. 3,9 bis 7,8 mmol/l. „Beim ATTD* 2025 wurde die Begrifflichkeit in ‚Time in Normal Glucose (TiNG)‘ geändert“, berichtet Dr. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE, Internist und Diabetologe DDG. „Diese Bezeichnung ist treffender, denn das Ziel moderner Therapien besteht für Menschen mit Diabetes darin, mit technischer Unterstützung und neueren Medikamenten möglichst Glukosewerte und eine Lebenserwartung wie ein Gesunder zu erreichen.“
Im Gegensatz zu den empfohlenen 70 Prozent, die man mindestens in der TiR anstreben sollte, sprechen Mediziner*innen bei der TiNG von 50 bis 55 % der Zeit, die man in der Range von 70 bis 140 mg/dl bzw. 3,9 bis 7,8 mmol/l erzielen sollte. Wurde TiNG zunächst nur für Typ-1-Diabetes adressiert, kam das Thema dann auch auf für Typ-2-Diabetes auf. „Mit einer TiNG von 50 % hat man eine geringere Glukosevariabilität – und genau darum geht es letztlich: Hypoglykämien und Hyperglykämien zu vermeiden“, so Kröger.
TiNG in der Diskussion
Welche tatsächliche Rolle der Parameter TiNG in der täglichen Diabetestherapie spielen soll und kann, steht aktuell aber noch nicht fest. „Das wurde in den letzten Monaten teils hitzig diskutiert“, so Kröger. „Die Studienlage ist aktuell noch nicht ausreichend, um die konkreten positiven Auswirkungen zu belegen.“ Erste Ergebnisse gibt es aber schon: Eine Studie mit 808 Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes zeigte, dass eine Erhöhung der TiNG um 10 % das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen wie Retinopathie oder Nephropathie reduziert. Eine Studie mit über 6.000 Menschen mit Typ-2-Diabetes zeigte zudem, dass eine bessere TiNG die Sterblichkeit reduziert.
Kritisiert wird laut Kröger am Konzept TiNG neben der überschaubaren Studienlage zudem, dass sich durch diese neue Zielvorgabe die Zahl der Hypoglykämien bei insulinbehandelten Menschen mit Diabetes erhöhen könnten – zumal schon mit Blick auf die TiR häufig Unterzuckerungen stattfinden. „Außerdem müssen wir uns die Frage stellen: Was macht das eigentlich mit den Menschen?“, so Kröger. Laut einer Umfrage der Psychologin Tannenbaum haben 33 % der befragten Menschen mit Diabetes Bedenken und wollen den Parameter nicht nutzen. „Das ist verständlich“, ordnet Kröger ein. „Ein noch strengeres Therapieziel kann den Druck erhöhen und die Lebensqualität enorm einschränken – Menschen befürchten Stress, negatives Feedback vom Diabetes-Team oder ein Gefühl des Versagens.“
Zudem hätten viele Betroffene die nötigen Tools gar nicht, um die TiNG zu kontrollieren. „Während CGM- und AID-Systeme bei Menschen mit Typ-1-Diabetes relativ verbreitet sind, ist das bei Menschen mit Typ-2-Diabetes nicht der Fall“, so Kröger.
Zusätzlicher Parameter für spezielle Zielgruppen
Generell beobachtet Kröger, dass die TiNG in der Praxis bei Menschen mit Diabetes in Deutschland noch keine große Rolle spielt. „Auch ich würde TiNG nicht primär als neuen Zielparameter für alle einsetzen“, so Kröger. Er plädiert vielmehr dafür, TiNG nur für bestimmte Gruppen und nur ergänzend zu nutzen – etwa für Betroffene mit Prädiabetes Typ 2 als effizientes Frühwarnsystem: „Hochrisikopatienten mit einem HbA1c zwischen 5,7 und 6,4 % könnten von einem CGM-Sensor und dem Parameter TiNG profitieren, denn wenn der HbA1c im Verlaufe des Prädiabetes langsam auf 6,5 % ansteigt, verändert sich die TiNG deutlich – und die TiR noch nicht.“ Ein Signal, das als Motivationsschub für eine veränderte Lebensweise fungieren könnte, um die Diabetes-Manifestation zu verschieben oder zu verhindern.
Bei Typ-1-Diabetes setzt man bereits in einem frühen Stadium vor Ausbruch der Krankheit auf CGM-Systeme und die TiNG-Werte. „Wenn die Werte über 10 % über 140 mg/dl bzw. 7,8 mmol/l liegen, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 80 %, innerhalb des nächsten Jahres Typ-1-Diabetes zu bekommen“, erklärt Kröger.
Wichtig findet der Mediziner bei allen Einsatzmöglichkeiten von TiNG aber immer, dass die Betroffenen das Therapieziel auch akzeptieren müssen und in die Entscheidungen eingebunden werden. „Wer eine TiR von 25 % hat, ist weit entfernt von einer TiNG von 50 %.“ Das strengere Ziel würde seiner Meinung nach dann nur zu viel Frust führen. Sein Fazit: „Was nützt eine perfekte TiR oder TiNG, wenn man unglücklich ist? Auch die ‚Time in Happiness‘ ist wichtig – dabei sollte man möglichst 100 % erreichen!“
* ATTD = International Conference on Advanced Technologies and Treatments of Diabetes
Text: Susanne Löw